When They See Us: Kritik zur neuen Miniserie auf Netflix (2024)

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Von: Felix Böhme

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When They See Us: Kritik zur neuen Miniserie auf Netflix (1)

Die Netflix-Miniserie When They See Us nimmt sich der wahren Begebenheiten eines grausamen Falls um eine Joggerin im Central Park von New York im Jahr 1989 an. Dabei handelt es sich weniger um eine faktische und vielmehr um eine emotionale Aufarbeitung dessen, was den fünf zu Unrecht verurteilten jugendlichen Tätern von damals widerfahren ist.

Die Welt der Serien meint es momentan nicht gut mit uns. Gerade schaut man sich noch eine Episode des verstörenden, aber auch extrem sehenswerten neuen Dokudramas Chernobyl an, dessen Inhalte nur schwer zu verarbeiten sind, da erwartet einen schon die nächste immens ergreifende, unglaubliche Serienadaption einer wahren Geschichte. Diese ist ebenso kaum zu fassen und wird garantiert nicht nur in mir eine außerordentliche emotionale Reaktion hervorrufen. Dieses Mal handelt es sich um einen neuen Titel von Netflix, bei dem man der Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin Ava DuVernay („A Wrinkle in Time“, Queen Sugar) die Mittel gegeben hat, um eine Geschichte über fünf junge Menschen zu erzählen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren und aufgrund ihrer ethnischen Herkunft be- sowie verurteilt und zu unschuldigen Opfern des amerikanischen Justizsystems wurden.

Die Rede ist von einem Fall und einem Prozess, der Ende der 80er und Anfang der 90er in den USA für großen Aufruhr sorgte. Am späten Abend des 19. Aprils 1989 wurde die Joggerin Trisha Ellen Meili während eines Laufs durch den New Yorker Central Park brutal attackiert, vergewaltigt und schwer verwundet zum Sterben in der Parkanlage zurückgelassen. Zur ungefähr gleichen Zeit wurden mehrere Jugendliche, vorwiegend mit afroamerikanischem und hispanoamerikanischem Hintergrund, von der Polizei festgenommen, nachdem es aufgrund Unruhen im Park zu einer Art Razzia gekommen war. Im Laufe der unmittelbaren Ermittlungen durch die New Yorker Staatsanwaltschaft wurden dann fünf Tatverdächtige ausgemacht, die 1990 für den Angriff auf Trisha Meili zu verschieden langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden: Die zum Zeitpunkt des Urteils minderjährigen Antron McCray, Kevin Richardson, Yusef Salaam, Raymond Santana Jr. und der damals 16-jährige Korey Wise.

Diese fünf bekamen von der Presse und Öffentlichkeit den Beinamen der „Central Park Five“ aufgedrückt, der sie bis heute verfolgt. Selbst die Netflix-Produktion, um die es hier geht, war bis vor einer Weile noch mit diesem Titel versehen. Ava DuVernay, deren politischer Aktivismus sich klar in ihrem Schaffen als Filmemacherin zeigt („13th“, „Selma“), entschied sich letztlich aber dagegen und gab ihrem Herzensprojekt einen neuen Namen: When They See Us. Nicht nur, um das Stigma zu bekämpfen, das die fünf fälschlich Verurteilten seit etwa 30 Jahren begleitet, selbst nachdem sie 2002 von ihrer Schuld freigesprochen wurden. Sondern auch, um deutlich zu machen, dass es oftmals ungerechtfertigte Vorurteile aufgrund Herkunft und sozialen Stands sind, die ein Menschenleben zerstören können. Die augenblickliche, unfaire Wahrnehmung einer Person, die man eigentlich gar nicht kennt und deren Beurteilung durch vorgefertigte Meinungen beeinflusst ist, kann furchtbare Konsequenzen für jemanden haben, die niemand verdient hat.

In vier Episoden, deren Laufzeiten zwischen 60 und gut 90 Minuten variieren, tauchen wir ein in die Leben von Antron, Kevin, Yusef, Raymond und Korey, für die in einem Moment nichts mehr so gewesen ist, wie es jemals war, geschweige denn sein würde. Man präsentiert uns ein Grundgerüst an Informationen und Details zu dem Fall und dem vermeintlichen Tathergang. Doch es handelt sich bei „When They See Us“ nicht um eine minutiöse, faktische Aufarbeitung der Dinge, die sich im April 1989 und in den Folgejahren ereignet haben. Es ist eine zutiefst emotionale Auseinandersetzung mit diesem zur damaligen Zeit medial omnipräsenten Vorfall, in dem es neben der attackierten Trisha Meili weitere Opfer gegeben hat - und zwar auf Kosten der Staatsgewalt.

Diese musste auf die jüngsten Fälle von Kriminalität und erhöhter Gewaltbereitschaft in New York reagieren und konstruierte in der Folge eine Anklage, bei der man sich der Hilflosigkeit junger Menschen einer bestimmten Bevölkerungsschicht und kulturellen Gemeinschaft bediente, die perfekt in die blutige Geschichte gepasst haben, welche erzählt werden sollte. Den Angeklagten und später Verurteilten wurde dabei nicht nur ihre Würde und ihre Rechte, sondern auch ihre Menschlichkeit genommen. Vor allem letzteres soll den fünf zentralen Figuren dieser Miniserie wieder zurückgegeben werden. Über intime Einblicke in ihre Lebensgeschichte. Über die Beziehungen, die sie geführt und wie diese sich nach ihrer Inhaftierung dargestellt haben. Über die Charaktere selbst, die sich fragen, warum man ihnen das angetan hat und wie es überhaupt für sie eines Menschen würdig weitergehen kann, nachdem ihre Zeit hinter Gittern beendet ist.

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Allen, die die blanken Daten und Fakten hinsichtlich des „Central Park jogger case“ haben möchten, sei der sehr ausführliche englischsprachige Wikipedia-Eintrag zu diesem Fall nahegelegt - eine Seite, auf der man sich während der Sichtung von When They See Us sehr wahrscheinlich mehrfach wiederfinden wird. Oder aber man schaut sich den Dokumentarfilm „The Central Park Five“ aus dem Jahr 2012 von Ken Burns (kleine Empfehlung am Rande: Burns' „The Vietnam War", zu sehen auf Netflix), seiner Tochter Sarah und ihrem Ehemann David McMahon an, in der detailliert auf den Fall, die Urteile und sämtliche Beteiligten eingegangen wird. Was Ava DuVernay und ihre Mitstreiter hier verfolgen, ist weitaus gefühlvoller, dramatischer und deshalb vielleicht auch dramaturgisch effektvoller. Immer mit dem absoluten Fokus darauf, die geächteten Unschuldigen zu rehumanisieren und gleichzeitig das US-amerikanische Rechtssystem sowie ignorante Demagogen (ein gewisser US-Präsident wird mehrfach völlig zu Recht zur Zielscheibe) unmissverständlich anzuzählen und anzuklagen.

Was sich insbesondere in der ersten Episode manifestiert, ist großes Unverständnis, Mitgefühl und eine unbeschreibliche Wut darüber, was Antron McCray, Kevin Richardson, Yusef Salaam, Raymond Santana Jr. und Korey Wise widerfahren ist. Um die komplexe, sehr finstere Gedankenwelt der Figuren, die sich in einer unbeschreiblichen Situation wiederfinden, zum Ausdruck zu bringen, hat DuVernay einen überragenden Cast zusammengebracht, in dem sich arrivierte Veteranen, vielversprechende Talente und kommende Stars die Klinke in die Hand geben. Viele von den bekannten Darstellern und Darstellerinnen wie Vera Farmiga, Michael K. Williams, Niecy Nash, John Leguizamo, Joshua Jackson, Felicity Huffman (in einer höchst unsympathischen Rolle, was ihrer aktuellen Außenwahrnehmung mit Blick auf den Bestechungsskandal, in dem sie involviert ist, nicht gerade hilft) oder auch Logan Marshall-Green haben oft nur wenige Szenen, um zu glänzen. Als kleine Teile eines großen, bewegenden Ganzen bringen sie ihre schauspielerischen Stärken jedoch hervorragend ein, im Dienst der Erzählung und der Schicksale der fünf Hauptfiguren.

Von diesen sticht insbesondere Jharrel Jerome als Korey Wise heraus, der in der letzten Episode eine wahnsinnig greifbare Darbietung zum Besten gibt, irgendwo zwischen Frustration, Akzeptanz, Hoffnung, Wut und vielen weiteren Emotionen, die sich in seinem Charakter im Rahmen einer jahrelangen, ungerechten Gefängnisstrafe angestaut haben. Wir sehen, wie jeder Einzelne der Verurteilten versucht, nach seiner Haft zurück ins Leben zu treten. Doch ihre Chancen sind begrenzt, sie sind gebrandmarkt auf Lebenszeit, ihre Jugendträume sind verpufft und werden sich nie bewahrheiten. Und all das, weil es „einfach gepasst hat“, sie als Täter zu zeichnen, weil man sie gegeneinander ausgespielt hat, ohne dass sie wirklich wussten, wer die anderen eigentlich sind, die zusammen mit ihnen befragt und verdächtigt wurden. Es ist teilweise absurd, mit welchen Mitteln und über welche Wege die Verurteilungen erzielt werden. Zwischenzeitlich keimt gar ein wenig Hoffnung auf, aber das ist leider keine Geschichte, die ein gutes Ende nimmt, selbst wenn am Schluss der Gerechtigkeit und dem Opfer dieses feigen Angriffs am Abend des 19. Aprils 1989 Genüge getan wird. Das, was ein paar Menschen hier verloren haben, bekommen sie nie wieder zurück.

Die visuelle Machart von „When They See Us“ dient immer wieder als unterstützendes Element, um die beklemmende, erdrückende Atmosphäre zu illustrieren, die die Charaktere nicht nur während der Vernehmung durch die Polizei umgibt. Die Dunkelheit lauert stets am Rande des Bildes, kleine Lichtquellen werden fast schon erstickt oder müssen mit aller Kraft kämpfen, um nicht von den pechschwarzen moralischen Abgründen verschluckt zu werden, die uns Zuschauer beim Schauen der Miniserie auf Schritt und Tritt begleiten. Hinzu kommen zahlreiche ungemein dichte, fokussierte Aufnahmen der Figuren, die den Schauspielerinnen und Schauspielern alle Zeit der Welt geben, dem Leid und den Gefühlen ihrer Charaktere Ausdruck zu verleihen. Ja, manchmal tappt DuVernay gemeinsam mit ihrem Kameramann Bradford Young in eine arg melodramatische Falle, die Regisseurin hat nun mal ein Faible für diese Art der Inszenierung und bedient sich im Zuge dessen oft sehr emotiver Musikstücke, um den Nagel auf dem Kopf zu treffen. Da stellt sich einem gelegentlich schon die Frage, ob man nicht über das Ziel hinausschießt, ob zu viel Herz nicht zu viel emotionale Manipulation mit sich bringt.

Doch vielleicht ist diese vermeintliche Manipulation auch nur die einzige Möglichkeit, jeden einzelnen davon zu überzeugen, was hinter diesem Fall und seinen zahlreichen Opfern steckt. Ava DuVernay will diese Emotionen, sie will ihr Publikum wütend und sprachlos machen, sie will eindringlich Aufmerksamkeit erregen und manipulativ-provokativ an eine Sache erinnern, die so verwerflich und falsch gewesen ist, dass es eigentlich kaum zu glauben ist. When They See Us wird von einer exzellenten Darstellerriege - ob es nun die jungen Newcomer oder erfahrenen Haudegen sind - getragen und stellt nicht nur die sehr gefühlvolle, aufwühlende Nacherzählung einer wahren Horrorgeschichte dar, sondern auch einen Appell an uns, mit offenen Augen Diskriminierung, Ungerechtigkeiten sowie die Leidtragenden solcher Missetaten wahrzunehmen und nie zu vergessen, wer sie sind. Das gelingt eindrucksvoll, wenngleich mit ein paar inszenatorischen Kniffen und pathetischen Mitteln, die mitunter einen eher abgedroschenen ersten Eindruck hinterlassen können. Und trotzdem kann man nicht wegschauen. Weil man nicht wegschauen sollte. Und nicht wegschauen darf.

Hier abschließend der Trailer zur Netflix-Serie When They See Us:

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